Wer nämlich mit h schreibt ist dämlich?

Vom Umgang mit Fehlern in der Rechtschreibung

Bestimmt hast du den Satz „Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich“ schon oft gehört.

Aber stimmt das überhaupt?

In diesem Blogartikel erfährst du unter anderem:

  • was Rechtschreibfehler über die dahinter liegenden Gedanken und Strategien verraten
  • weshalb manche Fehler eigentlich sogar ziemlich klug sind
  • warum das Rechtschreiblernen nicht geradlinig verläuft und Fehler zum Prozess dazugehören und 
  • wie du deine Schüler*innen mit einer positiven Fehlerkultur in ihrem Lernprozess stärken kannst.

Foto Kinderhand schreibend
Bild: Tho-Ge/pixabay

Und so geht's weiter:

Wann Fehler eigentlich ein Lob verdient hätten...

Max ist 5 Jahre alt. Er geht noch nicht in die Schule, allerdings „liest“ und „schreibt“ er schon einzelne Wörter. Er kann zum Beispiel seinen Namen erkennen, wenn er irgendwo geschrieben steht. Und er hat unter das Bild, das er für seine Oma gemalt hat, „Oma“ geschrieben.
Max` Schwester Jule ist schon fast 7 und geht in die 1. Klasse. Auch sie malt ihrer Oma ein Bild. Darunter schreibt sie „für Omer“. Die Großmutter der beiden ist irritiert. Wieso kann Max, der noch in die Kita geht, „Oma“ schon richtig schreiben, während seine Schwester bei einem (vermeintlich) so einfachen Wort noch Fehler macht? 

Es stimmt: Jule hat das Wort „Oma“ falsch geschrieben. 

Und dennoch zeigt ihr „Fehler“, dass sie in ihrer Rechtschreibentwicklung schon sehr viel weiter ist als ihr kleiner Bruder. 

Eigentlich sollte Jule für ihren Fehler sogar ein Lob bekommen. Sie hat nämlich ein wesentliches Prinzip der deutschen Schriftsprache entdeckt und ihr Wissen angewendet und  beim Schreiben auf das Wort “Oma” übertragen.

Anders als ihr kleiner Bruder, der ohne Schriftspracherfahrung einfach eine für ihn abstrakte Zeichenfolge abgespeichert und reproduziert hat, ordnet Jule den Lauten der gesprochenen Sprache schon die passenden Zeichen der Schriftsprache zu. 

Mehr noch: Sie kennt auch schon das typische Muster deutscher Wörter

Prototypische Muster erkennen

Das prototypische deutsche Wort ist nämlich ein zweisilbiges Wort mit einer Betonung auf der ersten Silbe, wie zum Beispiel „Besen“ oder „Ampel“. Dabei ist die zweite Silbe eine sogenannte Reduktionssilbe. Sie hat immer einen „Schwa-Laut“ oder „Murmelvokal“, der mit dem Buchstaben <e> verschriftet wird. Dieses <e> ist jedoch nur reduziert, oft sogar überhaupt  nicht zu hören, wie zum Beispiel bei dem Wort „Ampel“, wo wir das <e> in der zweiten Silbe normalerweise gar nicht sprechen. Oder bei “Besen” – auch hier sprechen wir das <e> eigentlich nicht mit. Darum sind “Ampel” und “Besen” genau genommen auch gar keine lautgetreuen Wörter – obwohl sie für gewöhnlich als solche eingeordnet werden. Wirklich lautgetreu verschriftet, müssten wir eigentlich “Ampl” und “Besn” schreiben – was viele Kinder zu Beginn ihres Schriftspracherwerbs ja auch tun. 

Die Reduktionssilbe eines prototypischen deutschen Wortes endet auf <-e>, <-en>, <-el> oder <-er>. Letzteres wird immer dann geschrieben, wenn wir in der unserer gesprochenen Sprache ein sogenanntes „vokalisiertes r“ hören, also etwa in Wörtern wie „Bruder“,  „Butter“ oder „Fenster“.
Wenn du dir diese Wörter mit einer ganz natürlichen gesprochenen Aussprache vorsprichst, hörst du, dass sie in ihrem Auslaut akustisch kaum vom Auslaut in „Oma“ zu unterscheiden sind.

Genau so nimmt das auch Jule wahr. Und darum überträgt sie sehr richtig eine “Regel”, die sie beim Schreiben und Lesen in den letzten Wochen implizit neu entdeckt hat, auch auf dieses Wort.
Und zwar: „Wenn ich am Ende ein a höre, muss ich <er> schreiben.”

Nur ist sie bei dem Wort “Oma” ausgerechnet auf ein nicht prototypisches deutsches Wort gestoßen. 

Übergeneralisierungen sind typische Fehler

Von diesen nicht prototypischen Wörtern, die auf einen sogenannten Vollvokal enden – also eben kein vernuscheltes Schwa-e, sondern einen hörbaren Vokal – haben wir anders als z.B. das Italienische oder Spanische im Deutschen nur sehr wenige

Beim Schreiben des Wortes “Oma” hat Jule also “übergeneralisiert” – d.h. eine erkannte Regel auf ein Wort angewendet, auf das es gar nicht zutrifft. 

Und das ist ganz typisch für den Lernprozess, in dem Jule gerade steckt: Sie überträgt ihr entdecktes Regelwissen erst einmal auf alle Wörter, die dafür in Frage zu kommen scheinen.

Später wird sie auch die Ausnahmen von der Regel entdecken und dann auch Wörter wie „Oma“ wieder richtig schreiben.

Jules zwichenzeitlicher „Fehler“ ist also gar kein Rückschritt, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck eines wichtigen Lernschrittes!

Das Rechtschreib-Lernen verläuft darum – von außen betrachtet – nicht geradlinig, sondern in „Kurven”.  

Eine Lernkurve wie die zur <-er>-Schreibung wird sich bei Jule und allen anderen Rechtschreiblernern im Verlaufe ihres Schriftspracherwerbs noch häufig wiederholen. 

Ziemlich wahrscheinlich wird Jule „Maschine“ mit <ie> schreiben, nachdem sie entdeckt hat, dass ein langer i-Laut an der betonten Stelle im Wort in der Regel mit <ie> geschrieben wird – aber bevor sie erkannt hat, dass mehrsilbige Wörter mit einer Endung auf <-ine> regelhaft kein <ie> haben. 

Und sie wird vielleicht ganz der Regel zur Dehnungs-h-Schreibung (Achtung, kompliziert: „Folgt auf einen langen Vokal ein l,m,n oder r und hat das Wort keine komplexe Konsonantenhäufung am Anfang, dann schreibe ich ein Dehnung-h.“) entsprechend das Wort „Name“ und abgeleitet davon „nämlich“ mit <h> schreiben. 

Dä(h)mlich?
Ganz im Gegenteil!

Leider werden Jule und all die anderen Kinder jedoch vermutlich selten Lob  für diese Leistungen erhalten. Die Fehler werden ihnen wahrscheinlich rot angestrichen werden – im ungünstigsten Fall sogar verbunden mit einer negativen Bemerkung oder gar dem Hinweis „Das hört man doch!“.
Aber dass „Bruder” oder „Fenster” mit <er> geschrieben werden, „Oma” jedoch mit <a>, kann man eben gerade nicht hören.

Auf die Einordnung kommt es an

Eine negative Rückmeldung zu Jules „klugem” Fehler verspielt die Chance, in ihrem Fehler eine kognitive Leistung zu erkennen und sie durch eine positive Rückmeldung zu weiteren Entdeckungen zu motivieren. Sie also in ihrer Lernfreude zu stärken

Jules Oma hat sich über den Fehler gewundert, sich dazu aber glücklicherweise zurückgehalten und Jule ihre Freude über das geschenkte Bild gezeigt.

Am nächsten Tag in der Schule schreibt Jule, wie jeden Montag, einen Satz über ihr Wochenende: „Ich war mit meinem Bruder Max bei meiner Omer.” 

Als ihre Lehrerin Jules Satz liest, hebt sie bestärkend hervor, dass Jule ein wichtiges Muster (<er> am Wortende) entdeckt und entsprechend auf die Wörter „Bruder” und „meiner” angewendet hat. Sie sagt Jule, dass sie auch bei dem Wort  „Oma” denselben, richtigen Gedanken hatte – es allerdings auch ein paar wenige Wörter gibt, auf die dieses Muster nicht zutrifft und die am Ende tatsächlich mit <a> geschrieben werden und die Jule sich im Laufe der Zeit – je öfter sie ihnen begegnet – merken wird  – wie „Oma” oder auch „Opa”. 

Die Lehrerin hebt also Jules Leistung hervor und dass ihr Fehler zeigt, was sie schon gelernt hat. Sie zeigt ihr, dass sie sozusagen einen „schlauen” Fehler gemacht hat. 

Sie ordnet den Fehler also als Hinweis auf eine wichtige Erkenntnis ein – als einen bedeutsamen Schritt im Lernprozess.

Und damit Jule sich das Wort „Oma” trotzdem in seiner richtigen Schreibweise abspeichern kann, schreibt sie ihr „Oma” noch einmal in grün richtig darüber.

Positive Fehlerkultur

Das Beispiel von Jule macht deutlich, wie wichtig es ist, dass wir uns beim Interpretieren von Fehlern immer wieder bewusst machen, welchen Herausforderungen die Kinder im Prozess ihres Schriftspracherwerbs und der Rechtschreibentwicklung begegnen.

Und dafür brauchen wir ein fundiertes Wissen über die Strukturen und Gesetzmäßigkeiten unserer Sprache!

Als Erwachsene sind wir nämlich so vertraut mit der Schriftsprache, dass es uns oft nicht leicht fällt, uns vorzustellen, wie sich unsere Schrift erschließt, wenn wir nur die gesprochene Sprache als Bezug haben. 

Denn auch, wenn unsere Schrift eine Alphabetschrift ist, in der hörbare Laute in grafische Zeichen übertragen werden, ist die Schrift keineswegs einfach nur das Abbild der gesprochenen Sprache!

Sie besteht aus regelhaften Mustern und Strukturen, die sich im Rahmen eines jahrhundertelangen Prozesses und vor allem zugunsten einer besseren Lesbarkeit herausgebildet haben.

Während wir selbst diese Strukturen und Muster schon lange erfasst und verinnerlicht haben – oft ganz unbewusst – müssen die Kinder diese Entdeckungen erst noch machen!

Manchen Kindern gelingt das “wie nebenbei”. 
Intuitiv erfassen sie regelhafte Muster – wie die Schreibweise unserer prototypischen Endungen <-en>, <-el>, und <-er>. Andere brauchen dabei Unterstützung von uns.

Deshalb ist es so wichtig, dass du deine Lernmaterialien sehr bewusst auswählst. Denn mit gezielt zusammengestelltem Wortmaterial ermöglichst du den Kindern, die Muster selbst zu entdecken, Hypothesen zu bilden, zu überprüfen und ggf. anzupassen.

Fehler gehören zu diesem Prozess notwendigerweise dazu.

Denn wie schon gesagt: Die Rechtschreibentwicklung ist ein Lernprozess, der nicht geradlinig verläuft, sondern eben kurvenreich!

Mit deinem Feedback auf die “Fehler”, die ein Kind wie Jule auf seinem Erkenntnisweg macht, hast du einen großen Einfluss darauf, wie es diesen Lernprozess – und sich selbst – erlebt!
Damit Kinder ihre Fehler nicht als “Defizite” verstehen, ist es wichtig, dass auch du es nicht tust. In der Pädagogik spricht man in diesem Zusammenhang von einer “positiven Fehlerkultur”.

Die Haltung ist entscheidend

Es ist also unsere Haltung, auf die es ankommt!

Darum lohnt es sich, immer ganz genau hinzuschauen, wenn wir die Fehler von Kindern sehen. Und sich zu fragen, welche Denkprozesse darin möglicherweise sichtbar werden:

Welche Strategien hat das Kind angewendet?
Zeigen sich vielleicht Missverständnisse, die aufgeklärt werden sollten? 
Hat das Kind möglicherweise eine Regel „übergeneralisiert“?

Und ganz generell:
An welchem Punkt steht das Kind in seiner Rechtschreibentwicklung?
Welche Fehler lassen sich vor diesem Hintergrund erklären – sind möglicherweise geradezu „logisch“?

Und nicht zuletzt ist ein Text, bei dem die Hälfte der Wörter falsch geschrieben ist, auch ein Text, in dem die Hälfte der Wörter richtig geschrieben ist!

Oft zeigen uns Fehler auch, dass wir selbst bei der Erarbeitung einer Regel ein Missverständnis begünstigt haben.

Schreibt ein Kind z.B. nicht nur „Biene“ und „Brief“ mit <ie>, sondern auch „Zietrone“ oder „Spienat“, hat es offenbar schon gut verstanden, dass der lange i-Laut für gewöhnlich als <ie> geschrieben wird.
Dass es dabei nicht berücksichtigt, dass dies nur für lange i-Laute an der betonten Stelle eines Wortes gilt, kann ein Hinweis darauf sein, dass ich diesen Zusammenhang mit dem Kind vielleicht gar nicht (oder nicht ausreichend) erarbeitet habe. 

Fehler können also eine ganze Menge erzählen! 

Sie sind grundsätzlich nie „dämlich“, sondern spiegeln die (oft sehr klugen) Gedanken, die sich ein Kind – bewusst und unbewusst – beim Schreiben gemacht hat.

Das sollten wir nicht nur uns selbst immer wieder bewusst machen, sondern auch den Kindern und ihren Bezugspersonen!

Mit dieser Haltung können wir ganz entscheidend dazu beitragen, dass auch die Kinder eine positive Einstellung gegenüber ihren „Fehlern“ entwickeln und sie nicht als „Makel“, sondern als wichtige Schritte in ihrem Lernprozess begreifen.

Und das ist ganz wichtig! Denn eine solche positive Fehlerkultur ist die Grundlage dafür, dass die Kinder offen fürs Lernen bleiben und sich zuversichtlich ihren Rechtschreibschwierigkeiten stellen.

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